G. Philip: Kalendarium der Ereignisse Ravensbrück

Titel
Kalendarium der Ereignisse im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück 1939 - 1945.


Autor(en)
Philip, Grit
Erschienen
Berlin 1999: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
350 S.
Preis
€ 21,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernhard Strebel, Historisches Seminar der Universität Hannover

Handbuch der Beliebigkeiten

55 Jahre nach deren Befreiung sind wir noch immer ziemlich schlecht über die nationalsozialistischen Konzentrationslager informiert, trotz der kaum noch überschaubaren Fülle an Literatur, die zum grössten Teil aus Berichten von Überlebenden besteht. Nach wie vor mangelt es für die Mehrzahl der grossen Lager an wissenschaftlichen Gesamtdarstellungen. Gleichfalls unaufgearbeitet ist die Geschichte zahlreicher Aussenlager. Insofern ist jeder Versuch zu begrüssen, die erhaltenen Fragmente einer ehedem hochverschriftlichten Verwaltung zu einer Ereignischronologie zusammenzusetzen und durch weitere Quellenbestände zu ergänzen. Wie hilfreich dies für jegliche weitergehende Forschung sein kann, hat - trotz nachgewiesener Nachlässigkeiten in Detailfragen - das von Danuta Czech vorgelegte Auschwitz-Kalendarium gezeigt 1. Andere Gedenkstätten mögen ihre Gründe haben, warum sie ein derartiges Vorhaben bislang nicht angegangen sind; die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück hat es nun mit grosszügiger Unterstützung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gewagt.

Zugegeben: die gestellte Aufgabe war nicht einfach. Die äusserst unterschiedlichen Quellen sind lückenhaft und zudem weit verstreut, auch wenn sich vieles bereits in Kopie in der Gedenkstätte befand; ein Bearbeitungszeitraum von weniger als vier Jahren war nicht gerade üppig. Allerdings waren die Rahmenbedingungen im Vorfeld bekannt und taugen nicht als Erklärung dafür, daß das nun von Grit Philipp vorgelegte Ergebnis nicht nur weit hinter dem erklärten Vorbild von Czech zurückbleibt, sondern in dieser Form nicht hätte veröffentlicht werden dürfen.

Ein Kalendarium ist dazu da, um befragt zu werden. Die Antworten müssen verlässlich sein, da ein derartiges Werk automatisch zum Nachschlage- und damit zum Standardwerk wird. Die vorhandenen Quellen müssen erschlossen und auf ihren Aussagewert geprüft werden. Quellenkritik ist oberstes Gebot, und es muss nachvollziehbar bleiben, aus welcher Quelle welche Information stammt. Darüber hinaus gilt es aus der Fülle von höchst unterschiedlichen Ereignissen diejenigen herauszufiltern, die von grundlegender Bedeutung für die Lagergeschichte sind. All dies läßt das in ansprechendem Layout erschienene 350 Seiten starke Ravensbrück-Kalendarium in vielerlei Hinsicht vermissen.

Wiederholungen und Ungereimtheiten

Zunächst erstaunt es, die Chronologie der eintreffenden Häftlingstransporte einmal ins eigentliche Kalendarium eingearbeitet zu finden und ein zweites Mal als knapp 100seitigen tabellarischen Anhang. Beide Aufstellungen überschneiden sich in weiten Teilen, wobei der weitaus grösste Teil der Schnittmenge aus der Studie der polnischen Historikerin und Überlebenden des Lagers Wanda Kiedrzynska von 1965 2 übernommen wurde und somit nicht die behauptete erstmalige Veröffentlichung darstellt, allenfalls die in deutscher Sprache. Dort, wo sie sich unterscheiden, erweisen sich nicht wenige der von Philipp vorgenommenen Ergänzungen als fragwürdig, andere als unzutreffend, beispielsweise der Transport mit 230 Französinnen im Januar 1943, der nicht nach Ravensbrück, sondern nach Auschwitz ging, was aus dem zitierten Häftlingsbericht eindeutig hervorgeht 3. Bedauerlicherweise wurden beide Aufstellungen nicht hinreichend abgeglichen, was die Autorin vor diesem und weiteren Fehlern bewahrt hätte. Andere (bereits bekannte) Transporte wiederum sucht man in beiden Aufstellungen vergeblich, beispielsweise den mit etwa 600 Sinti und Roma, der das "Zigeunerlager" kurz vor der Ermordung der verbliebenen knapp 3000 Männer, Frauen und Kinder in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau in der Nacht auf den 3. August 1944 verliess 4. Dabei wurde ausgerechnet die besondere Berücksichtigung dieser Verfolgtengruppe der Bundesministerin Dr. Christine Bergmann ins Geleitwort diktiert.

Berücksichtigt man nur eine Aufstellung der Zugänge und ignoriert den angehängten Bildteil, bleiben etwa 200 Seiten. Und die haben es in sich, und zwar jenseits der zahlreichen kleineren Fehler (unterschiedliche Bezeichnungen für ein Archiv, falsch geschriebene Namen, fehlerhafte Angaben von SS-Rängen sowie fehlerhafte Literaturangaben), die bei grosszügiger Auslegung als Schreib- oder Flüchtigkeitsfehler bezeichnet werden können, trotz allem aber ebenso ärgerlich bleiben wie eine Reihe nicht aufgelöster Abkürzungen, das unvollständige Register und die oberflächliche und lediglich vier Seiten umfassende "Auswahlbibliographie".

Bei den nicht die Zugänge betreffenden, etwa 120 Seiten umfassenden, Einträgen gibt Philipp an, sich in erster Linie auf Häftlingsberichte zu stützen. Dabei weist sie in der Einleitung ausdrücklich darauf hin, wie problematisch deren dokumentarischer Charakter, insbesondere hinsichtlich von exakten Datierungen ist. Hinzu kommt, daß die Autorin in einer Fussnote einräumt, daß der von ihr vornehmlich genutzte und von der ehemaligen Gefangenen Erika Buchmann zusammengetragene Bestand bei weitem nicht ausschließlich aus Erinnerungsberichten, sondern unter anderem auch aus Prozess- und Ermittlungsunterlagen, nachträglich erstellten Listen und Auszügen aus Sekundärliteratur besteht. Trotzdem zitiert sie sämtliche Unterlagen aus diesem Bestand als "Berichte". Ausser einer nicht aufgeschlüsselten Berichtsnummer gibt sie nur selten weitere Informationen, was einer Unkenntlichmachung der Quellen gleichkommt und auf eine vollkommen unnötige Verstümmelung des grössten Teils der präsentierten Informationen hinausläuft.

Problematisches Konzept

Wie der Titel schon sagt, behandelt das Ravensbrück-Kalendarium ausschließlich das Frauenlager. Diese verengte Perspektive fällt hinter den mittlerweile erreichten Forschungsstand zurück, denn Ravensbrück war nicht nur das zentrale und neben dem in Auschwitz-Birkenau grösste Frauenlager des KZ-Systems, sondern entwickelte sich zudem im Laufe der Zeit zu einem regelrechten Lagerkomplex. Dieser umfasste innerhalb der Lagermauern ab 1940 einen Industriehof mit den Werkstätten der SS-eigenen "Gesellschaft für Textil- und Lederverwertung mbH" (Texled) und ab April 1941 ein kleines Männerlager. In unmittelbarer Nähe des Lagers kamen ab August 1942 Fertigungshallen des Elektrokonzerns Siemens & Halske und im Dezember 1944 das dazugehörige "Siemenslager" hinzu sowie ab Juni 1942 das in vielfacher Weise mit dem Frauenlager verbundene Jugend-KZ Uckermark für minderjährige weibliche Häftlinge. All diese Lagerbereiche lassen sich ebensowenig von der Geschichte des Frauenlagers trennen, wie die ab 1943 zunehmende Zahl von Aussenlagern, die in direkter Nachbarschaft von Rüstungsbetrieben errichtet wurden.

Der von Philipp gewählte Ansatz erweist sich insbesondere dann als willkürlich und problematisch, wenn es um Ereignisse geht, die nicht ausschließlich das Frauenlager betrafen. So nahmen SS-Ärzte im Januar 1945 nicht nur an weiblichen, sondern auch an männlichen Häftlingen der Sinti und Roma Sterilisationen vor. Auch im Männerlager waren die jüngsten Opfer im Alter von zehn bis 15 Jahren 5. Für den März 1942 ist im Kalendarium von einem Transport mit weiblichen Häftlingen in das KZ Majdanek die Rede, obwohl es zu diesem Zeitpunkt noch gar kein "Frauenfeld" in Majdanek gab. Die Erklärung findet sich in dem als Quelle zitierten Bericht. Er stammt von einem männlichen Häftling, der darin nicht den Abtransport von Frauen schildert, sondern den der knapp 300 männlichen Opfer der Mordaktion "14 f 13" 6 - der Fortführung der "Euthanasie" in den Konzentrationslagern -, von denen es gerüchteweise (und letztlich unzutreffend) im Männerlager hiess, sie kämen nach Lublin/Majdanek.

Vollkommen unterbelichtet bleiben die zwei Betriebe, die in Ravensbrück maßgeblich die Arbeitskraft der weiblichen Häftlinge ausbeuteten: die SS-eigene Texled und die Siemens & Halske AG. Und es ist schon ein Kunststück, noch weniger Informationen über Siemens in Ravensbrück zu präsentieren als der Siemens-Historiker Wilfried Feldenkirchen 7. Außerdem sind vier der insgesamt neun relevanten Kalendariumseinträge zu Siemens fehlerhaft bzw. vollkommen falsch; gleiches gilt für vier der insgesamt zehn relevanten Angaben zur Texled. In keinem Fall wurden die durchaus vorhandenen Dokumente herangezogen, sondern es wurde ausschließlich auf Sekundärliteratur zurückgegriffen.

Zu den Aussenlagern für weibliche und männliche Häftlinge nennt das Kalendarium nicht eine einzige Zahl. Etliche Aussenlager werden nicht einmal mit Namen genannt, geschweige denn die Firmen und staatlichen Institutionen, die sich dort der KZ-Häftlinge bedienten. Dem Kalendarium nach hat der Heinkel-Konzern niemals Häftlinge des KZ Ravensbrück beschäftigt. Dabei unterhielt Heinkel u. a. in Barth ab November 1943 eines der grössten Aussenlager des KZ Ravensbrück mit insgesamt ca. 6 000 männlichen und weiblichen Häftlingen 8.

Außerdem führt die fast vollständige Ausklammerung der Aussenlager zu einer Reihe von folgenschweren Fehlern. So sind sämtliche Angaben zur monatlichen Gesamtzahl der weiblichen Häftlinge für das Jahr 1944 sowie zur monatlich ausgewiesenen Zahl der verstorbenen weiblichen Häftlinge ab 1943 unzutreffend. Alle beziehen sich nicht - wie behauptet - ausschließlich auf das Stammlager, sondern beinhalten auch die Aussenlager. Den Gipfel stellt die vollkommen verdrehte Wiedergabe eines nicht zuletzt aufgrund seiner Einzigartigkeit bereits mehrfach publizierten Dokuments dar. Es handelt sich um eine Aufstellung vom Januar 1945 über die Zahl der Häftlinge und SS-Wachmannschaften aller grossen Konzentrationslager einschliesslich der ihnen unterstellten Aussenlager. 9 Im Kalendarium ist sie kaum wiederzuerkennen. Die männlichen Häftlinge im Stamm- und in den Aussenlagern des KZ Ravensbrück werden zu weiblichen Häftlingen in den Aussenlagern umgewidmet, die Zahlen für das weibliche und männliche SS-Bewachungspersonal ausschließlich dem Stammlager zugeordnet. Zur Orientierung: Anfang Januar 1945 befanden sich fast zwei Drittel der männlichen und etwa die Hälfte der weiblichen Häftlinge des KZ-Komplexes Ravensbrück in den Aussenlagern (darunter 18 grössere); in etwas geringerem Ausmass ist dies auch für das SS-Wachpersonal anzunehmen.

Eine Möglichkeit, die ausgeblendeten Bereiche des Lagerkomplexes in ihren Umrissen dennoch in das Kalendarium einzubinden, hätten die jedem Jahr vorangestellten Einführungen geboten. Diese Chance wurde verschenkt. Statt dessen präsentiert Philipp Informationen zum allgemeinen Kriegsgeschehen, insbesondere zum Frontverlauf und für 1943 und 1945 Schilderungen der verheerenden Bombenangriffe auf Köln, Hamburg und Dresden, wobei in den meisten Fällen kein direkter Zusammenhang mit dem KZ Ravensbrück zu erkennen ist. Der Überblick über das Jahr 1944 umfasst vier Seiten. Nicht ein Satz davon behandelt den Einsatz von KZ-Häftlingen in der Rüstungsindustrie. Bei den Bombenangriffen wird jeweils die Zahl der Todesopfer genannt; nach der Gesamtzahl der Todesopfer des KZ Ravensbrück (etwa 20.000 - 30.000 weibliche und mindestens 2.100 männliche Häftlinge) sucht man im Kalendarium hingegen vergeblich 10.

Nicht eingelöste Ansprüche und ungenutzte Quellen

Besonderen Wert legt Philipp erklärtermassen auf geschlechtsspezifische Aspekte und die Frage nach den Tätern und Täterinnen und folgt damit aktuellen Forschungsschwerpunkten. Deren erste Ergebnisse, beispielsweise hinsichtlich der SS-Aufseherinnen, läßt sie allerdings vollkommen unberücksichtigt 11. Auch hier blieben in der Gedenkstätte befindliche Dokumente ungenutzt. Gleiches gilt für das männliche Bewachungspersonal. Laut Kalendarium hat der letzte Kommandant, SS-Hauptsturmführer Fritz Suhren, seinen Dienst in Ravensbrück insgesamt dreimal angetreten: am 1. August, im Oktober und im November 1942. Seiner Personalakte wäre zu entnehmen gewesen, daß seine Versetzung nach Ravensbrück offiziell am 1. September 1942 erfolgte.

Vollkommen unverständlich bleibt die Ignorierung einer der wichtigsten und erschütterndsten Quellen, die für das Frauenlager im KZ Ravensbrück überliefert ist: das bis Ende April 1945 geführte Geburtenbuch, das sich im Original im Archiv der Gedenkstätte befindet. Die erhalten gebliebenen Seiten beginnen am 19. September 1944 und verzeichnen insgesamt 527 Geburten. 48 Frauen erlitten eine Fehl- oder Totgeburt. Bei über der Hälfte der Geburten (266) wurde wenige Tage oder Wochen später das Sterbedatum der Säuglinge nachgetragen. Ein weiterer Blick ins Geburtenbuch und eine wenig aufwendige Literaturrecherche hätten die Autorin auch davor bewahrt, entgegen der von ihr zitierten Quelle zu behaupten, der Transport, mit dem sich die Lagerleitung der bis dahin überlebenden Säuglinge und ihrer Mütter sowie der Schwangeren und Kleinkinder entledigen wollte, habe sein verhängnisvolles Ziel, das KZ Bergen-Belsen, Ende März 1945 nicht erreicht 12.

Abgesehen von zwei Ausnahmen (dem Institut für Zeitgeschichte in München und der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg), die sich für Philipp anscheinend nicht als sonderlich ergiebig erwiesen haben, wurde offenbar kein weiteres deutsches Archiv (weder das Bundesarchiv, noch eines der anderen Gedenkstättenarchive) aufgesucht oder kontaktiert. Lieber recherchierte die Autorin in ausländischen Archiven in Israel, den USA oder Polen. In erster Linie, um festzustellen, daß sich die meisten Zugangslisten bereits in Kopie in der Gedenkstätte befanden. Das erklärt auch, warum der Grossteil der eintreffenden Transporte in beiden Aufstellungen mit mehreren, teilweise bis zu sechs Archivsignaturen belegt wird, wo in den meisten Fällen die entsprechende Seitenzahl bei Kiedrzynska gereicht hätte. Die darüber hinausgehenden Möglichkeiten in den besuchten ausländischen Archiven blieben offensichtlich ungenutzt.

Einladung zur Geschichtsfälschung

Die Gaskammer von Ravensbrück, in der von Ende Januar/Anfang Februar 1945 bis wenige Tage vor der Befreiung Ende April 1945 etwa 5.000 bis 6.000 Häftlinge qualvoll zu Tode gebracht wurden, ist angesichts der eher zunehmenden als abnehmenden Leugnungsversuche durch rechte und rechtsradikale Kreise (nicht nur in Deutschland) ein besonders sensibles Thema. Die Darstellung im Kalendarium läßt die sich daraus ergebende Pflicht zur besonderen Sorgfalt allerdings vermissen. So sucht man auf der Lagerskizze vergeblich nach dem Standort der Gaskammer, obwohl der Plan vorgibt, den Stand von 1945 zu zeigen. Auch kam der für die Selektionen in die Gaskammer maßgeblich mitverantwortliche SS-Arzt Dr. Winkelmann nicht aus Auschwitz, was sein mörderisches Treiben in Ravensbrück in keiner Weise abmildert. Höchst problematisch ist außerdem der Umgang mit einem der wenigen Dokumente, die zum Komplex der Gaskammer erhalten sind. Es handelt sich um eine fingierte Liste vom 6. April 1945, mit der die SS die in der Gaskammer ermordeten Häftlinge nachträglich als in das "Schonungslager Mittwerda i. Schlesien" überstellt angab. Entgegen dem gut lesbaren Dokument und der einschlägigen Fachliteratur 13 ist im Kalendarium von "Mittweida" als Zielort die Rede (S. 199, 202 und 204); ein kleiner Unterschied mit grossen Interpretationsmöglichkeiten, vor allem für Revisionisten. Denn im Gegensatz zum nicht existierenden Mittwerda war Mittweida ein Aussenlager für weibliche Häftlinge des KZ Flossenbürg in Sachsen, das zum fraglichen Zeitpunkt noch bestand 14. Die Angabe "Mittweida" könnte nun zu Recht von jedem als Argument angeführt werden, daß die Überstellung von Häftlingen in ein existierendes Aussenlager nicht als Beweis für deren Ermordung in der Gaskammer von Ravensbrück gelten kann. Im übrigen findet sich diese falsche Version in zwei weiteren Gedenkstättenpublikationen der letzten fünf Jahre 15.

Eine völlig neue These präsentiert Philipp hinsichtlich der Vorgeschichte bzw. der Anfangsphase des Frauenlagers. Ausgangspunkt ist die Frage, warum die erste in Ravensbrück vergebene Häftlingsnummer die 1 415 war. Über eine im einzelnen nicht nachvollziehbare Rechnung wird dann darauf geschlossen, daß bereits vor November 1938 mehrere Hundert weibliche Häftlinge "in das noch nicht eröffnete [sic!]" KZ Ravensbrück gebracht worden wären. Dabei liegt die Lösung des "Problems" auf der Hand und wurde bereits 1965 von kompetenter Seite, dem Internationalen Suchdienst in Arolsen, veröffentlicht: "Die Häftlinge, die von der Lichtenburg nach Ravensbrück verlegt wurden, behielten ihre Häftlingsnummern aus dem KL Lichtenburg. Für Neuzugänge im KL Ravensbrück wurde die Häftlingsnummernserie aus dem KL Lichtenburg weitergeführt" 16. Im übrigen scheint Philipp ihrer These selbst nicht recht getraut zu haben, denn warum sonst beginnt das Kalendarium "erst" mit dem 15. Mai 1939, die Aufstellung der Zugänge im Anhang "erst" mit dem 21. Mai 1939?

Unterm Strich

Keiner der in der Einleitung und dem Vorwort - teilweise in unnötig hohem Masse - erhobenen Ansprüche ("Handbuch der Grundlagenforschung"; "Baustein für die vergleichende KZ-Forschung"; "Handwerkszeug, um Theorien zum nationalsozialistischen System der Konzentrationslager zu hinterfragen") wird auch nur ansatzweise eingelöst. Im Gegenteil: das Kalendarium läßt grundlegende wissenschaftliche Standards schmerzlich vermissen. Das führt nicht nur in entscheidenden Punkten zu einem verzerrten Bild des KZ Ravensbrück, sondern leistet darüber hinaus Missverständnissen, Missdeutungen, der Bildung von Legenden bis hin zur Leugnung der in Ravensbrück begangenen Verbrechen Vorschub. Philipp selbst liefert dafür beredete Beispiele. Nicht einmal der gegenwärtige Kenntnissstand konnte erfasst und für weitergehende Forschungen gebündelt werden. Insofern ist der Wert des Kalendariums bestenfalls der eines unnötig unvollständigen und unüberprüften Zettelkastens: selber schuld, wer sich darauf verläßt?

Gemeinhin durchläuft ein Manuskript vor seiner Veröffentlichung mehrere unterschiedliche Kontrollinstanzen. Abgesehen von der Betreuung des Kalendarium-Projekts innerhalb der Gedenkstätte stellt sich insbesondere die Frage, warum der renommierte Metropol Verlag ganz offensichtlich auf das dringend notwendige Lektorat verzichtet hat. Vermutlich ist das zu einem Teil auf die prekären Bedingungen zurückzuführen, unter denen sich heutzutage Veröffentlichungen vollziehen und finanzielle Erwägungen dazu führen, letztlich am falschen Ende zu sparen.

Die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück und die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten wurden im Frühjahr vom Autor dieser Zeilen, aber auch von anderer Seite ausführlich über die hier auszugsweise dargelegten Mängel informiert. Die Gedenkstätte kündigte daraufhin an, dem Kalendarium künftig einen Errata-Zettel beilegen zu lassen, auf dem zwölf der gröbsten Fehler richtiggestellt werden. Abgesehen davon, daß zwei der "Richtigstellungen" falsch sind, ist es damit noch lange nicht getan. Und wenn die Leiterin der Gedenkstätte Ravensbrück, Dr. Sigrid Jacobeit, das Kalendarium im Vorwort als "unentbehrlich für künftige Forschungen, die pädagogische Arbeit und die Öffentlichkeitsarbeit" ihrer Einrichtung bezeichnet, stellt sich die Frage, auf wir uns da noch gefasst machen dürfen.

Anmerkungen:
1 Danuta Czech, Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939-1945, Reinbeck 1989.
2 Wanda Kiedrzynska, Ravensbrück. Kobiecy oboz koncentracyjny, Warszawa 1965, S. 317-369.
3 Czech, Kalendarium Auschwitz-Birkenau, S. 394.
4 Ebd., S. 756, S. 783 und S. 838 ff.
5 Michael Zimmermann, Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische "Lösung der Zigeunerfrage", Hamburg 1996, S. 358 (nicht in der "Auswahlbibiographie").
6 Bernhard Strebel, Das Männerlager im KZ Ravensbrück 1941-1945, in: Dachauer Hefte (1998), S. 141-174, hier S. 161 (zumindest in der "Auswahlbibliographie" erwähnt).
7 Wilfried Feldenkirchen, Siemens 1918-1945, München 1995; in der "Auswahlbibliographie" ebenso nicht genannt wie Carola Sachse, Zwangsarbeit für die Firma Siemens 1940-1945, in: Christl Wickert (Hg.), Frauen gegen die Diktatur - Widerstand und Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland, Berlin 1995, S. 140-153.
8 Helga Radau, Nichts ist vergessen und niemand. Aus der Geschichte des KZ Barth, Kückenshagen 1994 (nicht in der "Auswahlbibliographie").
9 Faksimile-Abdruck in: Johannes Tuchel, Die Inspektion der Konzentrationslager 1938-1945. Das System des Terrors, Berlin 1994, S. 212 f. (zumindest in der "Auswahlbibliographie" erwähnt)
10 Bernhard Strebel, Ravensbrück - das zentrale Frauenkonzentrationslager, in: Ulrich Herbert, Karin Orth, Christoph Dieckmann (Hg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, Göttingen 1998, S. 215-258, hier S. 242 ff. (nicht in der "Auswahlbibliographie"); ders., Männerlager, S. 173.
11 Irmtraud Heike, "... da es sich ja lediglich um die Bewachung der Häftlinge handelt..." Lagerverwaltung und Bewachungspersonal, in: Claus Füllberg-Stolberg u. a. (Hg.), Frauen in Konzentrationslagern. Bergen-Belsen; Ravensbrück, Bremen 1994, S. 221-239; Gudrun Schwarz: SS-Aufseherinnen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern (1933-1945), in: Dachauer Hefte 10 (1994), S. 32-49 (beide nicht in der "Auswahlbibliographie").
12 Eberhard Kolb, Bergen-Belsen. Vom "Aufenthaltslager" zum Konzentrationslager 1943-1945, Göttingen 1996, S. 75 (nicht in der "Auswahlbiliographie").
13 Stand 1988: Germaine Tillion, Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, Lüneburg 1998, S. 279-299; Anise-Postel-Vinay, Die Massentötungen durch Gas in Ravensbrück, in: ebenda, S. 357-395, hier S. 369. Beide Autorinnen korrigieren darin die fehlerhafte Angabe "Mitwerda" in: Eugen Kogon, Hermann Langbein, Adalbert Rückerl (Hg.), Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas. Eine Dokumentation, Frankfurt/M. 1986, S. 263; zuletzt: Strebel, Frauenkonzentrationslager, S. 238 f. (dort auch mein ausdrücklicher Hinweis auf das irreführende "Mittweida" mit Bezug auf einen Aufsatz der Verfasserin des Kalendariums; eine Kopie des Manuskriptes wurde der Gedenkstättenleiterin im Februar 1997 zur Verfügung gestellt).
14 Gudrun Schwarz, Die nationalsozialistischen Lager, Frankfurt/M. 1990, S. 162.
15 Grit Weichelt [heute Philipp], Das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück vor der Befreiung, in: Sigrid Jacobeit/Simone Erpel (Hg.), "Ich grüsse Euch als freier Mensch". Quellenedition zur Befreiung des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück im April 1945, Berlin 1995, S. 15 und S. 17; Simone Erpel, Kriegsende und Befreiung, in: Sigrid Jacobeit/Grit Philipp (Hg.), Forschungsschwerpunkt Ravensbrück, Berlin 1997, S. 47.
16 Internationaler Suchdienst, Häftlingsnummernzuteilung in Konzentrationslagern, Arolsen 1965, S. 28 (nicht in der "Auswahlbibliographie").

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